Der Sheldon Effekt – die Selbstsabotage Hochbegabter im Berufsleben

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Debattenbeitrag zum Thema „Das IQ – Paradox der Leistungsfähigkeit“, von Daniel Ulf Khafif, München, 10. Februar 2022

Hintergrund / Link: https://lnkd.in/gSs2AGPr ️ Autoren: Tobias Weidemann/Ben Hartlmaier, erschienen in der WirtschaftsWoche

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Der Sheldon Effekt – die Selbstsabotage Hochbegabter im Berufsleben

Die im vorenannten Artikel Das IQ – Paradox der Leistungsfähigkeit beschriebene Absicht, als high potential die eigenen Fähigkeiten und Talente zu torpedieren, entsteht oft genau deshalb, weil der soziale Druck des „Dazugehörens“ im Arbeitsleben noch einmal deutlich höher ist, als zuvor schon in Ausbildung oder Schule.

Der Mensch ist nach Auffassung des Arztes und Harvard- Forsches Dr. Gabor Maté ein bio-soziales Wesen. Das bedeutet, dass das Wohlbefinden – als auch das Erkranken eines jeden Menschen, dessen Biologe bzw. Biopathologie und dessen Gesamtentwicklung größtenteils auf die Art und Weise der jeweiligen Einbindung bzw. Nicht-Einbindung in eine soziale Gruppe resultiert. Was auch immer wir an Talenten in die Wiege gelegt bekamen und was auch immer wir an Handicaps mitgeliefert bekamen, welcher Art sie sein mögen, kann sich in der Lebensentwicklung je nach Gruppenzugehörigkeit und sozialer Bindung entweder manifestieren – oder reduzieren. Das gilt für beide Richtungen. Das heißt, “nur” weil wir ein besonderes Talent für, beispielsweise, Sprachen lernen, Mathematik oder Klavierspiel besitzen, muss sich noch lange nicht ein zwangsläufiger Erfolg im späteren Berufsleben einstellen. Denn das Talent alleine wird nicht bemerkt, wenn es nicht von einer Gruppe, zunächst der Familie, später die Mitschüler, schließlich die Kollegen oder, im Falle des Künstlers, einem Publikum reflektiert wird.

Erfolg folgt und mehrt sich durch soziale Resonanz

Erst im sozialen Kontext, in der sozialen Multiplikation des Dargelegten, im Echo der Gruppe, erfolgt der Erfolg. Das kann für viele Hochbegabte, die häufig eher stillere Naturen sind, die sich in ihrer Konzentration mehr um ihre Interessen, denn um ihr Umfeld kümmern können, zum beruflichen wie auch gesellschaftlichen Nachteil werden. Denn: Das unbedingte “dazu gehören wollen” kenne ich – leider – nur zu gut. Um nicht aufzufallen und Teil des „Großen und Ganzen“ zu sein, Teil einer Gruppe zu werden, egal ob Sportverein, Studienzirkel oder Firma, fängt eine Selbstsabotage an, die bis zu Selbstnegation führt: Lieber nicht durch Leistung glänzen, da diese automatisch, Irritation, ja sogar Neid, Angst und bei den Vorgesetzten ebenso zu Konkurrenzdenken evoziert.

Das heißt, Hochbegabte inszenieren selbst verursachte, wider besseren Wissens, vermeidbare Fehler und signalisieren damit “Ich bin wie ihr”, damit die Belohnung, von der Gruppe akzeptiert zu werden, endlich eintritt.

Hochbegabte und Mobbing – Lotsen gehen von Bord

Ergebnis: Die Führungskräfte, die Hochbegabte wegen ihrer Talente einstellen, fühlen sich ob der ausgebliebenen Leistungen enttäuscht – und entlassen die Hochbegabten schließlich…oft einhergehend mit nun offen gezeigtem Mobbing seitens der Gruppe: “Seht her, Herr xyz oder Frau abc waren ja gar nicht so überragend.” Da in der Arbeitswelt beruflicher Aufstieg eng mit sozialem Aufstieg und demnach sozialer Kontrolle einhergeht, beweist sich der Sheldon – Effekt: Menschen, die tatsächlich Ideen zur Lösung bestehender Probleme, ob Forschung, Industrie oder Finanzen, effizient umsetzen könnten, bleiben auf der Strecke, da sie bestimmte soziale Kompetenzen bzw. das, was die so genannten soziale Meinungshoheit als soziale Kompetenz interpretiert, nicht einbringen, vielmehr nicht spiegeln können. Einst als Lotsen gerufen, gehen sie von Bord! Denn die Schmerzen, die in den diversen Phasen des Mobbings entstanden, wirken lange nach. So ziehen sich die Geschmähten zurück in ihr “Sheldon-Schneckenhaus” und vermeiden neue Konfrontation, sprich, vermeiden künftig Bewerbungen auf ähnliche Stellen, die zwar fachlich auf sie zugeschnitten sein mögen, doch soziale Boot Camps bedeuten, inklusive psychischer Defekte.

Das Rollenspiel und die damit verbundene Rollensuche war und ist schon immer ein Konflikt des Individuums mit der Außenwelt, wie es der sizilianische Autor Luigi Pirandello vor bald hundert Jahren schon in seinem zeitlosen Meisterwerk, dem Drama “Sechs Personen suchen einen Autor / Sei personaggi in cerca d’autore (it.TItel)” treffend beschrieb. Vor allem die Rollenddefinition bleibt etwas, das nur allzu oft nicht in der Hand des Einzelnen liegt, sondern durch die Sichtweise des Anderen, tragischer noch, der anderen Gruppe, aufgestempelt wird. Doch letzten Endes konnten Hochbegabte in der prämedialen Welt etwas einfacher ihre Nischen finden, siehe die Autoren Fernando Pessoa, Franz Kafka oder Paul Bowles, an denen sie das umsetzen konnten, was sie auszeichnet. Dafür, für ihr Schaffen, brauchen Hochbegabte, die in hohem Maße sozial vorsichtige Menschen sind, mitunter auch an autistischen Syndromen wie Asperger leidend, etwas, das heute weder gegeben noch gewürdigt wird: Ruhe! Besser ausgedrückt: Schaffen per sozialer Emigration.

Soziale Medien bedeuten digitalen Treibsand für Hochbegabte!

Hochbegabte brauchen ein höheres Maß Isolation und Unabhängigkeit, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Diese wesensimmanente, zur beruflichen Entwicklung wichtige Unabhängigkeit wird im Zuge vermehrter Bürokratie, administrativer wie sozialer Kontrolle jedoch erschwert.  Besonders die sozialen Medien und deren öffentlich spürbares Echo haben in hohem Maße dafür gesorgt, dass sich diese hochbegabten Menschen noch weniger entwickeln können, ja, zurückbleiben, denn das Motto “I am cause I’m liked”, weicht dem rationalen Grundsatz: “Cogito ergo sum”. Das soziale Netzwerk ist daher der digitale Treibsand für Hochbegabte!

In der Folge glauben Hochbegabte nicht mehr an sich, wenn die soziale Akzeptanz höher bewertet wird, „geratet wird“, als die tatsächliche Lösung von Problemen – und geben auf. Sie verlassen ihre Arbeitsplätze und/oder werden gemobbt, versuchen sich in der Selbstständigkeit, wo ihre Talente qua Organisationsdruck erst recht zerrieben werden, werden depressiv, geben auf. Dann aber sprechen wir nicht nur von tragischen Einzelschicksalen. Dann sprechen wir über hohe menschliche und auch wirtschaftliche wie wissenschaftliche Verluste in dem, was wir als „Gesellschaft“ bezeichnen möchten.

Die Nicola Teslas, Franz Kafkas und Hildegard von Bingens unserer Weltgeschichte waren nicht gerade als Popstars oder Trend-Setter in die Annalen eingegangen – sie lebten eher zurückgezogen. Und doch hinterließen sie, geschaffen in schöpferischer Ruhe, unserer Menschheit ein ungeahnt hohes und nachhaltiges Erbe ihres Geistes. Was uns heute nutzt.

Das sollte uns zu denken geben!