Quarantäne, Pest und Disruption

Q u a r a n t ä n e | A r c h i t e k t u r & A u t o n o m i e

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“Der Preis, den wir für unsere Freiheit bezahlen, ist das Geld”

(Robert Louis Stevenson, schottischer Erzähler, Seefahrer und Gelehrter.)

 

(I) Der Zweck 

Quarantäne verfolgt einen Zweck. Sie gleicht damit der Funktion eines Gebäudes. Denn der elementarste Grund zum Errichten eines Gebäudes ist ihr Zweck. Sei es die machtgebotene Repräsentanz, wie zum Beispiel in der Politik,  beim amerikanischen Kongress in Washington, dem Palace of Westminster in London oder dem Rathaus in der andalusischen Hafenstadt Cádiz. Alle drei Gebäude boten und bieten den ersten demokratischen Verfassungen der Neuzeit Platz. Ihre Architektur folgt einer Regierungsgebäuden üblichen, kontradiktorischen Mischung aus Transparenz wie Entschlossenheit: Politischer Wille ist Ausdruck von Konsens und Macht zugleich. 

Oder nehmen wir eine ökonomische Repräsentanz wie der BMW – Vierzylinder Tower in München oder die Petronas Towers in Malaysias Hauptstadt Kuala Lumpur. Hier zeigt sich vor allem die Machbarkeit des Möglichen. Der State of the Art. Vermögen.

Isolation

Quarantäne, die Isolation von Innen zu Außen, von Aktiv zu Passiv ist so alt wie das Leben und das Bauen selbst. Sie ist stets zweckgebunden. Einen Zweck verfolgt beispielsweise das Konservieren von Werten. Von Kultur und ihren Zeugnissen. So auch die Aufbewahrung von Dokumenten im Gebäude des nordrhein-westfälischen Staatsarchiv in Duisburg, nämlich die gleichzeitige Konservierung wie Separation. Oder die noch stärkere, temporäre Separation von Angehörigen des Militärs bei jedweder Kaserne.

Von dort ist es schon etwas näher zur bislang größten Trennung im Rechtsstaat, also zwischen Genuß und Entzug von freiheitlichem Leben – dem Gefängnis. Oder einem Raum, der zwischen Gesunden und Infizierten trennt: Einer Isolationsstation innerhalb eines Krankenhauses, das qua re schon zwischen Macht und Ohnmacht über den eigenen Körper trennt, trennen muss. Bei hoch virulenten, epidemisch verlaufenden Infektionskrankheiten werden Infizierte, soweit möglich, auf eine Quarantänestation verlegt, die Erkrankte zwar biologisch versorgt, jedoch vollständig von der umgebenden Außenwelt isolieren soll, inklusive ihrer Atemluft, um die Ausbreitung einer Seuche zu verhindern oder zumindest temporär zu minimieren. Der Sinn dahinter: Das Große Ganze wahren, unter möglichst minimalen Verlusten; mit Inkaufnahme zu Lasten Einzelner. 

Wie schwierig die Umsetzung dieser Theorie in die Praxis ist, nicht nur ethisch, sondern gerade, wenn es an technischen, finanziellen oder logistischen Mitteln mangelt, zeigt die jüngste Pandemie des so genannten Corona-Virus, der sich während der Entwicklungszeit dieses Buches quer über unseren Globus ausbreitete. Mit einer seit der Pest im Mittelalter einzigartigen Synchronizität und kollektiven Homogenität, die dem Corona-virus das epidemische Attribut des “großen Gleichmachers” etikettiert. Als großer Gleichmacher wurde auch die Schwarze Pest bezeichnet, da sie weder Standes- noch Landesgrenzen kannte, weder Ethnien noch Religionen sie aufhielten, sondern einzig und allein: Forschung! Dabei rüttelt die Quarantäne ähnlich einem Fieber, das bei einer Infektion auch den größten Teils des Körpers zum Selbstschutz lahm legt, an den Grundfesten des Systems. Sie kann das System zum Absturz bringen! Zumeist war es dann bereits vor dem Quarantänefall marode.

In der Architektur überleben Gebäude, die etwas mitzuteilen haben, etwas bewahren, berichten oder schützen: Die Pyramiden, Angkor Wat, der Taj Mahal, das Colosseum die chinesische Mauer. Andere, unbekannte Gebäude dieser Epochen: Hinfort! 

 

Initial

Die schwarze Pest, die ein Drittel der Bevölkerung in Abendland und Orient dahin raffte (Die Hochkulturen des amerikanischen Doppelkontinents harrten noch der Entdeckung und Besiedlung durch die Alte Welt ), war der Auslöser für längst entwickelte Wirtschafts- und Handelsformen, für Forschung, die überfällige Hinwendung zu altem Wissen der Antike, der Renaissance und zur Gründung von zahlreichen Universitäten, zur Entwicklung von Forschergeist, Humanismus, Aufklärung, Bildung und Kultur, ja, von sozialer Partizipation, Chancenmehrung und Bürgertum. Die ständische Ordnung des Mittelalters, kirchlicher Ablasshandel, Glaubens Monopol und klerikale Macht, brach jäh weg. Maximale Disruption. Ende des Mittelalters.

Die wirtschaftlich weiter entwickelten Staaten Asiens bekamen nun Konkurrenz. Die Pest war der Weckruf zur europäischen Moderne. Das Wissen materialisierte sich, Handelsgüter konnten Europäer selber fabrizieren, sie wurden unabhängig vom Wissensvorsprung des Ostens, der über Konstantinopel und Venedig nach Zentraleuropa gelangte. Die Pest sorgte für neues Denken. Neues Denken findet neue Formen: Die Architektur schuf nicht nur gotische Kathedralen und maurisch geprägte Trutzburgen, sondern auch Handelskontore, Börsen, Schulen, Universitäten, Spitäler, Bürgerhäuser, die ihren wachsenden Einfluss stolz  nach Außen trugen. 

Die Architektur kann Gebäude schaffen, die Menschen kurzfristig und in begrenzter Anzahl voneinander trennt. Sei es im Justizvollzug, in der Politik oder in der Medizin. Ab einer bestimmten Menge von Menschen funktioniert ein solcher Bau nicht mehr, sowohl aus Gründen der Versorgung, als auch der öffentlichen Ordnung. Der Bau hat eine natürliche Grenze, die nicht nur physikalischen, sondern auch sozialen und ethischen Gesetzen folgt. Oder nicht? Hat ein Bienenstock, ein Wespennest nicht etwa deshalb eine natürliche Population Grenze, weil sonst die Aufrechterhaltung der Versorgungskette im Staat gefährdet wäre? Oder kann eine Königin nur eine bestimmte Menge Bienen kontrollieren? Oder bricht der Bau einfach statisch auseinander? Was wäre, wenn die Architektur Lösungen entwickeln könnte, die Utopie einer permanent wachsenden, doch zugleich isolierten Gesellschaft zu bauen? Was wäre ihr Sinn? Blenden wir, und das ist die eigentliche Frage, die die Bienen schon beantwortet haben, etwa die Endlichkeit von Systemen, von Gemeinschaften, von Staaten genau so aus wie die Endlichkeit des Lebens? Ist unser System wegen eines Virus gefährdet – oder wegen der Unfähigkeit zum Kollektivdenken. Oder des Ausblendens der Endlichkeit, des Todes? Die Bienenvölker scheinen uns Menschen nicht nur in diesem Punkt deutlich weiter entwickelt zu sein.

Sie bewegen sich oszillierend zwischen Einsamkeit, in ihrer Wabe, beim Pollen sammeln, als auch Gemeinsinn, etwa bei der Abwehr von Feinden, Beibehaltung von Hygiene und Anlegen von Vorräten. Sie kommunizieren stets im Schwarm. Und doch ist jede Biene einzigartig. Ihr System funktioniert. Unser System kollabiert. Nicht wegen eines Virus. Sondern weil wir nicht wissen, was wir tun sollen, wenn wir nichts tun. Wir sind Sklaven eines permanenten Aktionismus geworden. Unsere Gebäude laden selten zum Verweilen ein, sondern stellen Fragen, bieten Maximierung des Selbst, fordern zur Inbetriebnahme. Sie sind zweckgebunden. Dabei haben wir vergessen, daß sie einst die Infrastruktur einer Stadt , eines Staates bildeten. Denn in der gleichzeitig globalisierten wie individualisierten Welt liefert der Begriff “Staat” keine Antworten mehr. Gemeinwohl und Gemeinsinn wichen der Selbst Maximierung. 

Wenn ein Staat also keine Antworten mehr liefert, zerfällt er. Das Virus trifft derzeit insbesondere die Staaten hart, die schon vorher labile Fundamente hatten. Deren Infrastruktur bereits ausgehöhlt und in Schwindsucht begriffen war. Das klingt polemisch, doch “im Kern trifft die Nadel nur auf die Lücken im System”, wie der US-Amerikanische Beat-Autor und Junkie William S. Burroughs treffend beschrieb. 

“Beurteile einen Tag nicht danach, welche Ernte du eingefahren hast, 

sondern welche Samen du gesät hast.” (Robert Louis Stevenson)

Ein Staat ohne Interesse am Gemeinwohl seiner Bevölkerung ist krank. Der Staat ist seine Bevölkerung. Ist diese krank, stirbt der Staat. Und umgekehrt. Die Quarantäne kommt zu spät. Das Gesicht einer Stadt zeigt das: Heterogen gewachsene Städte mit stabiler Infrastruktur und wenig Arm/Reich-Gefälle sind auch in Zeiten der Pandemie insgesamt robuster aufgestellt, haben ihren Stadt- und Markenkern bewahrt, ihre Identität stärker auf den Einzelnen projiziert, der sich in der Krise disziplinierter verhält – und damit eine günstigere Überlebensprognose bekommt. Das Gesicht der Stadt ist gesund. Ihre Gebäude sind intakt. Ihre Zimmer und Waben lebensnah gestaltet. Vor allem: Der Gemeinsinn, bei allem Neid und Vorurteil, überwiegt noch. Und: Ihr Wachstum verläuft langsam und proportional. Nicht exponential! Exponentielles Wachstum zeigt zwar zunächst eine hohe Leistungskurve – fällt aber abrupt zusammen.

 

Exponential

Bienenvölker bieten in ihren Waben pro Larve eine Zelle. Zwischen 25 und 40 Grad Celsius springt die ehemals runde Zellform infolge physikalischer Gesetze de Oberflächenspannung auf ihr bekanntes Hexagon. Die Natur formt die Architektur. Auch der Vorrat an Pollen und Honig findet in den sechseckigen Zellen Platz. Der Bienenstock wächst proportional zu seiner Bevölkerung. Jede Biene findet Schutz, Nahrung, Wärme, wenn sie abends in den Korb zurück fliegt. 

Sind Bienen also ein sozialer Staat? Oder ein funktionaler? Gar ein ausbeuterischer, ja diktatorischer Staat, da letzten Endes nur die Spitze des Staates, die Königin überlebt, wenn zum Winter alle anderen Tiere verenden? In jedem Falle bildet die Struktur des Bienenstaates eine Analogie zur Überlebensweise des Menschen: Eine Wabenzelle besitzt die gleiche Funktion wie ein Zimmer in einer Wohnung, ein Haus in einer Stadt oder eine Stadt in einem Staat: Temporäre Isolation. Die Isolation ist wichtig für die Aufzucht von Nachwuchs, das Einlagern von Vorräten oder zum Schutz vor äußerlichen Gefahren. Dabei sind die einzelnen Zellen so organisiert, daß sie ein Kommunikations Relief bieten: Jede Veränderung wird innerhalb des Schwarms, des Netzes asynchron kommuniziert. Nähert sich ein Bär dem Bienenstock, angelockt vom duftenden, leckeren Honig in der Wabe, ändert sich das monotone Summen im Normalmodus des Bienenstocks jäh in ein wütendes Getöse.

 

Kommunikation 

Der Mensch hat ebenfalls das enge Zusammenwohnen in Haus, Straße, Stadt zur schnellen Kommunikation benutzt. Zunächst wurden Gefahren durch Sprache und Rufe weiter geleitet, dann durch Rauchzeichen, je nach Gefahr durch visuelle Signale wie Farben oder akustische wie das Bellen von Hunden immer mehr verfeinert. Je mehr sich erst Gebäude, dann Städte und Staaten in hoheitliche Gebilde formten, um so wichtiger wurde die vereinheitlichende Deutung von Symbolen und Zeichen. Die Sprache entstand, mit ihr die Ornamentik und Malerei, schließlich die Musik. Bei all dem, was wir damit als Kultur bezeichnen, vergessen wir oft, daß die Bildung derselben stets durch Separation entstand. Eine Sprache kann sich nur dann komplex ausbilden, Regeln bilden, eine solide Grammatik, wenn sie längere Zeit, oft über Generationen in gewissen Grenzen gehalten wurde. Grenzen, die wiederum, einer osmotischen Zelle gleich, sich nach Bedarf öffneten und schlossen, quasi atmeten. Eine völlige Isolation tötet. Eine zu große Offenheit ebenfalls. Die Entwicklung einer Sprache, die stets im Fluss befindlich ist, folgt also Regeln der Quarantäne und Osmose: Aufnahme – Isolation – Aufnahme – Isolation. Eins – Null –  Eins – Null. Stets in Harmonie. Ist Architektur die materialisierte Form der Harmonie aus Quarantäne und Osmose, so ist Sprache, ist Kommunikation der kognitive Ausdruck dieser Harmonie aus Quarantäne und Osmose. 

Der Beweis für eine sehr überlebensfähige Sprache ist das Englische: Es adaptiert seit Römerzeit, als im Süden der Insel noch das Sächsisch der Einwanderer mit dem Kelto Romanisch der Einwohner kollidierte, sämtliche Neuerungen ohne die eigene Identität zu verlieren. Das Englische ist flexibel wie Wasser und in seiner Grammatik auch genau so klar. Es läßt zu, nimmt auf, ohne das Eigene zu vergessen. Sprache ist Geist. Die Linguisten wissen, daß eine Sprache ihrer Kultur folgt: Sie überlebt, wenn sie liefert. Sie dringt in andere Sprachfamilien ein, bildet Substrate, wenn sie Vorhandenes aufwertet. Das Lateinische verdrängte das Keltische nicht, weil es schöner klang, sondern weil Handel, Währung und Infrastruktur aus Rom übernommen wurden, das Leben auch vieler keltischer Stämme verbesserten. Kommunikation folgt einem Zweck. Aber anders als die Architektur. Kommunikation folgt ausschließlich dem einzigen Zweck, den Status Quo des Senders zu verbessern! Das ist ein Axiom. 

Sprechen ist der Ausdruck von Gedanken. Gedanken verändern so die Realität.

Wir sprechen heute nicht deshalb viel Englisch, weil wir cool sein wollen, sondern weil das Englische spätestens seit Bildung des british empire, der Erfindung der Dampfmaschine und der Gründung von IBM DIE merkantile wie wissenschaftliche Sprache unserer Zeit ist. Deutsch wird als Wissenschaftssprache nicht verdrängt, weil es kompliziert ist. Sondern, weil es nicht gleich viel Neues mitteilt, wie das Englische. Die Schlüsselindustrien, Wissenschaft, IT, Medizin befinden sich fest in angelsächsischer und vermehrt chinesischer Entwicklung.  Das Virus traf das Zentrum chinesischer Expansion. Wuhan. Ein Globus in Quarantäne läßt in jedem Land nur noch Notprogramme laufen. Nun zeigt sich, welche Systeme robust sind. Diese Systeme werden sich nach der Krise rebooten und sich exportieren. 

Eine so genannte Durchseuchung und in Folge tretende Herden-Immunisierung sind nun zwei Begriffe, mit denen nicht nur Biologen oder Mediziner, sondern auch Kulturwissenschaftler arbeiten können: Die aztekische Hauptstadt Tenóchtitlan wurde infolge ihrer Isolation und Abschottung letzten Endes doch von den spanischen Eroberern unter Hernán Cortéz, mit starker und entscheidender Hilfe kollaborierender Krieger mesoamerikanischer Stämme eingenommen, die mit den Azteken lange verfeindet waren. 

Das Massensterben der Azteken erfolgte indes weniger durch die Waffen der Europäer, denn auch die Azteken waren in der Kriegskunst äußerst erprobt, sondern durch ihre eingeschleppten Keime. Epidemien rafting in kurzer Zeit die Mehrzahl der indigenen Völker dahin, mehr als Säbel und Schießpulver. Und die Handvoll Europäer, die bereits Kriege, Seuchen und Unruhen in ihrer Heimat, ja monatelange Überfahrt, Wetterextreme, Skorbut und Mangelernährung auf hoher See überlebten, waren bei Ankunft in der neuen Welt aus biologischer Sicht die Speerspitze menschlicher Robustheit. Dass die Religionen der Ur-Amerikaner und Europäer jeweils ihre religiöse Sicht der Dinge hatten, weshalb eine Handvoll Seefahrer in Kürze ganze Staaten eroberten, ist der Macht des Glaubens geschuldet. Wenn’s nicht erklärbar ist, bleibt’s gottgewollt.

Fakt ist, daß eine jahrhundertealte Zivilisation, wie die der Azteken, der Kelten, der Khmer oder der Ägypter nicht trotz, sondern wegen ihrer hoch entwickelten Kultur plötzlich enden kann. In einer Katastrophe. Denn die Wucht eines von außen wirkenden Impulses, ob Klima, Krankheit oder Krieg sorgt stets für eine Disruption der Blüte. Überleben tut die Essenz, die DNA, die Wurzel, das Radicale. Das Fundament. 

 

Das Fundament ist, was von der Quarantäne bleibt.

Vom Fundament aus, bildet sich wieder eine Mauer, ein Dach, ein Haus. Eine Zelle. In ihrer Multiplikation bildet diese eine Ortschaft, eine Stadt, einen Staat. Das Fundament des Bienenstaates ist seine Königin. Das Fundament eines Staates ist die Kultur seiner Einwohner: Sprache, Kunst, Bildung. Wenn nun wegen des Coronavirus SARS-CoV-2  (CoVid 19) unsere gesamte alte, bis dato gültige Kultur auf dem Prüfstand steht: Das Ausgehen, Reisen, Feiern, soziale Miteinander, die Verzahnung wirtschaftlicher Kreisläufe – dann ist die Isolation, die Quarantäne, ja, das Einfrieren ein notwendiger Schritt zur Freilegung unseres Fundaments. Die DNA dessen, was wir Kultur nennen, wird nun sichtbar. Und ähnlich des Bienenstaates wird nur ein Teil davon in die nächste Ära transportiert werden können. 

Welcher? 

Das bleibt die Frage. Ist es die Familie als kleinster, endemischer Teil der menschlichen Gemeinschaft? Ist es die rechtliche Verfassung eines Staates? Die Sprache? So oder so wird sich diese Frage am Zweck des Zusammenlebens bemessen. Und damit ihre Architektur. Welche Antworten wird die Architektur auf eine neue, noch nicht deutlich sichtbare Gesellschaft finden? Erste Umrisse werden bereits sichtbar: Die Digitalisierung verlangt Elektrizität und stabile Energieversorgung. Ihre Infrastruktur benötigt weniger Bewegung und weniger Platz. 

Unser Bildungssystem, aber auch politische und ökonomische Partizipation benötigt für Telearbeit und effizientes Netzwerken mehr Zugang, Access wie der US-amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin in seinem gleichnamigen Buch Access vor Jahren erklärte. Wenn die Leistungskette nun mehr zerebral stattfindet, dadurch gleichzeitig ehemalige Machtpositionen wie Herkunft, Zielort und materieller Besitz erodieren oder zumindest an Bedeutung verlieren – welche Art von Gebäuden, ja Staaten benötigen wir fürderhin? Brauchen wir weniger umbauten Raum? Weniger Individualverkehr? Bekommt qua Ressourcenbündelung die Stadt mehr Bedeutung oder mangels sozialer Relevanz eher das Landleben? Funktioniert die territoriale Integrität eines Staates noch, wenn die theoretische Eroberung desselben gar keinen Mehrwert mehr bedeutet, da sein Reichtum in der Dezentralität des Einzelnen und seinem Gehirn begründet ist und nicht mehr in seinem Vorkommen an Bodenschätzen? Braucht es die Polis, die Stadt, wenn wir dezentral, vernetzt und global denken, denken müssen? Was passiert dann mit dem Währungssystem? An welchen Gegenwert ist es künftig gekoppelt? 

 

Digitale Architektur

Welche Art Wohnung oder Haus benötigen wir, wenn der Reichtum in Form von Wissen und nicht von Materie ausgeprägt wird. Und welches Wissen brauchen wir dann? Bereits heute lebt eine  Generation hochpotenter Leistungsträger in einer durchweg industriell oder postindustriell vernetzten Welt trotz mehr Wertsteigerung in weniger Werten: Während ein normaler Handwerksmeister in den 1970er Jahren noch imstande war, alleine seine vierköpfige Familie zu ernähren und ein Eigenheim mit Garten zu bauen, schaffen dies heute nicht einmal mehr AKademiker ohne Kinder. Der Raum wurde knapp. Wieviel Raum braucht eine Biene? Ist ihr Lebensraum die Enge der Wabe – oder die Weite der Natur? In jedem Falle bietet ihr Stock durch penible Kontrolle am Ein- und Ausgang, durch Hygiene und saubere, stabile Ernährung Schutz vor äußerlichen Einflüssen. Ein eingeschleppter Virus wäre der Tod des Bienenvolkes. Oder der Mangel an Nahrung, sprich Blüten und Wiesen. 

Das Ende eines Zyklus, einer abgelebten Situation ist stets mit ihrer Blüte erreicht. Es gibt in der bekannten Menschheitsgeschichte keine zwei Hochphasen ein und derselben Hochkultur, sei es Rom, das britische Empire, Griechenland, China oder Amerika. Doch es gibt ein kulturgeschichtliches Axiom, das auch in der Architektur sichtbar wird: Hochkulturen, die sich, wohl unwissentlich, ab ihrem Höhepunkt anderen Kulturen gegenüber schrittweise öffneten, konnten ihre kulturspezifische DNA noch verbreiten: Das Schrift Roms, die Philosophie Griechenlands, die arabischen Ziffern und die keltischen Mythen überlebten bis in unsere heutige Zeit. Was wird von uns heute transportiert werden? Der angelsächsische Handels- und Pioniergeist? Das deutsche Organisationsvermögen? Die chinesische Kollektiv Kultur? Mediterrane Hilfsbereitschaft? Vielleicht von allem etwas. Vielleicht überleben homöopathische Dosen dessen, was wir abendländische und orientalische Kultur nennen und formen die künftige Biosphäre des homo digitalis, der nun qua vernetztem Denken die Erde zurück heilen kann, da er ihre Ressourcen in einer digitalisierten Welt nicht mehr so braucht, wie in einer materialisierten, analogen Welt. Dafür benötigen wir eine digitale Architektur. Eine Architektur die vernetzt kommuniziert. Materiell aufgeladene Individualisierung und ihre damit einhergehende Architektur von Palästen und Repräsentanz wird überflüssig, wird im besten Fall museal behandelt. Denn sie liefert keine Lösung. Und Architektur liefert Lösungen. Sie ist zweckgebunden. Nun folgt sie dem Zweck des Netzes, der kollektiven, digitalen Intelligenz. Dieses Denken braucht einen Raum. Neue Architektur. Kommunizierende Architektur. In diesem Sinne des Wortes.

 

Transformation

So oder so ist die Quarantäne, das, was passiert, bevor sich eine Zelle teilt, also Wachstum entsteht: Transformation.

Transfomation bedeutet: Das bis zur Phase der Zellteilung, ja bis zur Verpuppung gespeicherte Wissen wird auf das Wesentliche reduziert. Und geteilt. Die neu gebildeten Teile entwickeln sich mit gespeichertem Wissen fort, sammeln neue Erfahrungen, bilden Schlussfolgerungen, bilden also eine eigenständige, autonom wachsende  Zelle – bis zur nächsten Teillung.

Im Post-Corona Stadium des Transformationsprozesses wäre es noch zu früh, eine Prognose hinsichtlich einer Dystopie oder Utopie für die nächsten zehn, zwanzig Jahre zu wagen. Gaukler, Seher und Pendler erleben eine – kurzfristige – Konjunktur. Doch das Leben wird in jedem Falle weiter gehen. Freiheit wird sich ihren Weg bahnen. Allerdings wird Freiheit vielleicht neu definiert. Durch Ideale wie Gesundheit oder freiere Zeit in ein neues Mindset übertragen. Und wir werden nach der Quarantäne, dies kann höchstwahrscheinlich sicher postuliert werden, eine neue Architektur erleben. Nicht unbedingt in ihrer Geometrie, denn auch nach Corona wird Physik der Physik folgen, wird ein Kubus ein Kubus bleiben, ein Hochhaus ein Hochhaus und eine Küche eine Küche. Doch welchen ZWECK wird diesem Gebäude beimessen und welche Relevanz, ergo Funktion und welche Repräsentanz es ausübt, das kristallisiert sich noch. Das wird gerade neu definiert. 

Der Architekt wird in jedem Falle sein, der die ersten Gedanken einer neuen Lebensweise, eines neuen Soziotops aufgreifen, entwerfen  und ausgestalten wird. Die Quarantäne ist die Zelle ist die Wabe, das Zimmer und die Stadt. Sie teilt. Teilung schmerzt. Denn Teilung ist Entwicklung.

Die abgeworfene Hülle bleibt zurück.

Der Architekt sieht die Hülle. Denkt sie neu. Nimmt ihre Muster, fügt was hinzu. Baut. Die Quarantäne ist unser innerer Monolog. Wir atmen aus.

Was brauchen wir wirklich?

Nicht mehr und nicht weniger, als auf einem Schiff. Für unsere Zeit heißt das also, für ein Raumschiff. Vielleicht auch einen Panic Room, einen Bunker, wie auch immer – ein isolierter und autonom agierender Raum, der den darin lebenden Personen die größtmögliche Handlungsfreiheit und Unabhängigkeit bei gleichzeitiger Wahrung von physischer Distanz wie digitaler Connection zur Basis, zum Heimathafen, zum Quellort behält. Dabei ist die räumliche Trennung per Definition zeitlich limitiert. Die zeitliche Limitation ist je Quarantänefaktor variabel. Die Form, denken wir an ein Schiff, ein Raumschiff, wie bei Star Trek zum Beispiel, ist ein Mittel.


(II) Das Mittel